Leseprobe Entwicklung der Persönlichkeit

Ich hatte endlich begriffen, dass das Leben viel einfacher wird, wenn man nicht viele Dinge besitzt und hatte seither keinen Rückfall mehr. Noch konnte ich in den späten 1980er Jahren jedoch nichts mit der positiven Lebenseinstellung der Amerikaner anfangen. Das positive Denken in jeder noch so misslichen Lage mag für das Gehirn gut sein, mir ging es damals oft auf den Keks. Alles musste einfach “great” oder “easy” sein. Im Vergleich zu London wurde in New York im Bankgewerbe sehr hart gearbeitet. Dies wurde jedoch nicht ausgesprochen. Alle liebten ihren Job, den sie mit links erledigten, um sich nebenbei noch karitativen Aufgaben zuzuwenden, noch viel Zeit mit Familie und Freunden verbrachten, ihren Körper stählten. Ihr Tag stellte scheinbar 48 Stunden zur Verfügung. Die Wirklichkeit sah jedoch oft anders aus.

Auch die legere Kleidung mit Jeans und irgendwelchen T-Shirts sollte den Eindruck von Leichtigkeit vermitteln. Kleidung war damals in New York kein Statussymbol. Vielmehr wurde man oft nur Sekunden nach dem Kennenlernen gefragt, welche Schule die Kinder besuchen würden. Denn nichts verriet mehr über den persönlichen Status wie die Antwort darauf. Wieviel Geld konnte man monatlich für die Ausbildung der Kinder aufbringen? Welchem Stand gehörte man an, dass man die Kinder in diese oder jene Schule schicken konnte? Selbst welche politische Gesinnung sowie welcher Glaube man hatte, gab die Antwort preis. Von uns wusste man genau, dass wir “Ausländer” waren sowie nicht lange in New York bleiben wollten. Sonst hätten wir die Kinder nicht in der Deutschen Schule gehabt. Dort waren meist Kinder untergebracht, deren Eltern in einem Schuljahr zufällig in New York waren, jedoch noch nicht wussten, wo im nächsten Jahr die Zelte aufgeschlagen werden würden.

Ausser der Schule als definiertes Statussymbol erkannten wir die schön verzierten aufgeklebten Fingernägel als weiteres Signal eines “oberen” Standes. Diese Fingernägel zeigten auf, dass man rein gar nichts mit den Händen arbeitete. Man genug Angestellte hatte, die alles Manuelle in Haus und Garten erledigen. So mochte eine Frau zwar in einem ausgebeulten Trainer mit ungemachter Frisur im Einkaufsgeschäft sein, zeigte jedoch ihren Stand mit ihren Fingernägeln gebührend an.

Wir als Ausländer hatten wiederum keine Chance, beim örtlichen Tennisclub aufgenommen zu werden. Dies hatte – wie man uns hinter vorgehaltener Hand – erklärte, vor allem mit dem Rassismus-Gesetz zu tun, das es dem Tennisclub verbot, Farbige auszugrenzen. Rye war eine sogenannt gute Wohngegend. Abgesehen davon, dass sich damals die meisten Farbigen kein Haus in Rye hätten leisten können, wollte man auch keine Farbige in Rye haben. Wer nicht Bürger war, konnte daher auch nicht im Gemeindeverein mitmachen, nicht in den Tennisclub beitreten. Mieter wie wir durften jedoch auch dann im Meer schwimmen oder am Strand sein, solange die Bademeister anwesend waren. Dazu mussten wir für 20 Dollar pro Familie auf der Gemeindeverwaltung einen Ausweis abholen, den wir dem “Türsteher” am Strandeingang vorzuweisen hatten. Als Weisse badeten wir gesittet. Bereits kleine Mädchen trugen ganze Badekleider, weil man keine Brustwarzen sehen durfte. Auch nicht von kleinen Kindern. Unsere Kinder sprangen nicht herum, weil dies gefährlich sowie verboten war. Wir unterliessen jegliches Ballspiel, nahmen selbstverständlich keine alkoholischen Getränke mit an den Strand. Auch Radio, Schwimmgürtel, “Flügeli”, Hunde, Picknickkörbe liessen wir brav zu Hause, weil sie am Strand nichts zu suchen hatten. Wir kletterten auch nicht auf den Steinen herum, sondern kamen nur hierher um zu schwimmen, Nachbarn zu treffen, zu plaudern, mit dem Sand zu spielen. Die drei Bademeister, die für unsere Sicherheit sorgten, wachten über all unsere Aktivitäten. Sobald jedoch die Bademeister Feierabend hatten, der Türsteher keine Ausweise mehr kontrollierte, verliessen die Weissen den Strand, während danach die Farbigen den Strand bevölkerten. Dabei jegliche Verbote des Tages ausser Acht liessen. Frisch fröhlich herumsprangen, Ball spielten, einander ins Wasser schubsten, auf die Steine kletterten, weit hinaus schwammen, Hund und Radio mitbrachten und sich vergnügten. Tatsächlich lebten wir Weisse und Farbige immer noch auf zwei verschiedenen Planeten. Umso mehr freute ich mich später, als Obama Präsident wurde.

Ich kam mit einer neuen Weltanschauung nach Hause. Fing an, mir alles etwas leichter zu machen. Den Haushalt so zu organisieren, dass er nicht zu viel Zeit in Anspruch nahm. Auch war es gut, einmal in einem Land gelebt zu haben, in welchem man „Ausländer“ ist.  Doch das positive Denken hatte ich damals noch nicht wirklich verinnerlicht. Auch hätte ich mich nicht wie amerikanische Frauen an Projekte getraut, denen ich mich kaum gewachsen fühlte.  Dazu bedurfte es einen weiteren USA Aufenthalt.

Obwohl ich gerne Sachbücher zu bestimmten Themen lese und  immer wieder in Seminaren war, wo es um die Weiterentwicklung der Persönlichkeit ging, lerne, begreife, erfasse ich Situationen eigentlich nur, wenn ich sie erlebe.

Erst beim Erleben realisiere ich die Wirklichkeit. Dies möchte ich anhand der Früchte und Salate in Südafrika erklären. Immer wieder hörte ich, dass die Menschen in den Slums sehr viel Junk Food essen, statt sich gesund zu ernähren. Dies stimmt effektiv. Dort, wo auch wir unsere Einkäufe tätigten, sahen wir immer wieder eine Gruppe Männer, die Essen für einen ganzen Monat auf einen Pickup luden.  Alles unverderbliches Essen, das man nicht im Kühlschrank aufbewahren muss. Sehr viel Süsses, sehr viel lange Haltbares. Vielleicht hätte auch ich über diese Einkäufe den Kopf geschüttelt und mich gefragt, weshalb sich diese Leute nicht besser ernähren. Aber ich hatte erfahren, dass mir Früchte innerhalb 4-5 Stunden faulen, falls sie nicht im Kühlschrank aufbewahrt wurden und wusste, dass es bei diesem Klima kaum möglich war, anders einzukaufen, wenn man nicht über einen Kühlschrank verfügte. Ich hatte es selbst erlebt.

Es erleben, den Unterschied erfahren und mich dadurch besser fühlen. Dies sind auch die Voraussetzungen, dass ich körperliche Übungen regelmässig mache. Obwohl ich mich mein Leben lang zwang, immer wieder etwas für die Fitness zu tun, veränderte sich bei mir durch den Sport nicht viel. Manchmal  lernte ich etwas durch Umwege kennen: Weil ich meinen Mann 1992 an viele Kundenanlässe begleitete und ein sicheres Auftreten mehr und mehr von Bedeutung war, besuchte ich damals einen weiteren Rhetorikkurs.  Eine ehemalige Fernsehsprecherin bot einen entsprechenden Kurs an und ich erwartete in etwa das übliche Programm. Doch dieser Kurs nahm eine total andere Richtung als ich mir vorgestellt hatte. War ich da in einer Esoterikgruppe geraten?  „Esoteriktante“ war ein weiteres Schimpfwort, das Frauen klassierte, die nicht mehr der gängigen Norm entsprachen und ich vermied es  in Bankenkreisen tunlichst,  von Dingen zu erzählen, die unter Esoterik hätten laufen können.

Die ehemalige Fernsehsprecherin hiess uns, zuerst unsere Sinne  zu öffnen. Zu ihrer Anleitung zogen wir sämtlichen Schmuck und auch die Schuhe aus, standen im Kreis und lockerten unseren Kiefer, bis wir alle mit offenem Mund laut gähnten. Danach stellten wir unsere Füsse hüftbreit auf den Boden und wurzelten uns mit den Füssen in den Boden hinein. Strichen uns die Ohren, die Augen und den Mund aus und massierten danach unseren Bauchnabel. Erst danach setzten wir uns und sie erklärte uns, was Kinesiologie war.  Dort lernte ich die Übungen der Edu-Kinesiologie, auf die ich noch heute zurückgreife, wenn ich einen wichtigen Termin habe. Damals galt jedoch unser Tun als höchst esoterisch. Eine Frau verabschiedete sich gleichentags vom Kurs und eine Frau brach in Tränen aus, weil durch das Lockern ihres Kiefers viel hinuntergeschluckte Emotionen hochkamen.

Heute werden Kinder mit Lernschwierigkeiten mit Edu-Kinesiologie unterstützt. Selbst in unserer Nachbargemeinde gibt es für Nachhilfeschüler Edu- Kinesiologie.  1992 war jedoch Edu-Kinesiologie alles anderes als salonfähig. Es gehörte sich schlicht nicht, dass man  an einem Kurs einander angähnte und es konnte nicht sein, dass man durch das Ausstreichen der Ohren aufmerksamer wurde. Das war nur esoterisches Geschwätz.  Doch bei mir war der Bann gebrochen. In Erinnerung an die sehr guten Feldenkrais Lektionen während meiner Kur  in Degersheim spürte ich, dass es Zeit war, über den Körper zu mir selbst zu finden. Es folgte ein Kurs über Touch for Health und 20 Sitzungen Kinesiologie, um das Gleichgewicht im Körper zu stabilisieren. Ich kann mich noch heute gut an die erste Sitzung erinnern. Obwohl ich mich schon von vielem Ballast befreit hatte, mich prinzipiell nicht mehr für Geschenke bedankte, die ich nicht haben wollte und nicht mehr Feuerwehrübungen übernahm, weil jemand seine Dinge nicht frühzeitig regelte, traten noch viele Begebenheiten zu Tage, die ich optimieren konnte.

Fast zur gleichen Zeit meldete ich mich für einen Tai Chi Kurs an. Kaum jemand wusste damals, was Tai Chi ist und wir wurden tatsächlich für eine Sekte gehalten. Bei Kundenanlässen hätte ich damals nicht erwähnt, dass ich Tai Chi mache, weil dies damals so fremd war und ich mich vor falschen Beschuldigungen schützen wollte. In mir selbst hatte sich jedoch etwas massiv verändert: Ich fühlte mich nicht mehr fehl am Platz, nur weil ich Dinge tat, welche für die Gesellschaft noch nicht die Norm waren. Vielmehr wurde mir bewusst, wie verknöchert viele „Leute“ waren. Sie steckten in Traditionen, die nichts Neues zuliessen. Auf der anderen Seite lernte ich nun viele Menschen kennen, die sich auf den Weg machten, Neues in ihr Leben zu integrieren.

Ich hatte mir mein Leben so eingerichtet, dass ich  mehr Zeit für mich hatte. Die späteren 1990er Jahre gehörten mir und der Selbstfindung. Ich lernte im Tai Chi auch die Chinesische Massage kennen, ernährte mich bald nach den 5 Elementen und es war nur eine Frage der Zeit, bis ich mich an der Volkshochschule Zürich für einen Chinesisch Kurs anmeldete. Mich faszinierte die chinesische Denkweise vor allem auch, weil mir die chinesische Küche gut tat. Seit meiner Magengeschichte hatte ich eine heikle Verdauung und auch oft kalt. Dies besserte sich jedoch mit der Ernährung nach den 5 Elementen.

Eins gab das Andere. Die Chinesisch Lehrerin brachte uns zu einem Vortrag über FengShui an der Uni Zürich und hiess mich, einen Kaligrafie Kurs besuchen. Dort erfuhr ich viel über die unsichtbare Energie, die uns umgibt. Neue Horizonte eröffneten sich mir und ich fühlte mich erfüllt und glaubte einmal mehr, angekommen zu sein. Ich hätte damals nicht ahnen können,  durch welche Lebensschule ich durch die Krankheit meiner Mutter gehen werde. Es stand bereits Anfang Jahr fest, dass weder die Chemotherapie noch die Bestrahlung eine Wirkung hatten und sie das Ende des Jahres 1998 nicht erleben würde.  Unsere Mutter war durch diese tödliche Krankheit ausser sich vor Angst, Wut und Frust und brauchte stete Betreuung. Ich brach damals mein ganzes Privatleben ab,   begleitete meine Mutter ins Spital und organisierte ihre Pflege zu Hause. Mit ihr zusammen machte ich eine erste Lebens-Rückblick-Biografie, obwohl es dieses Wort damals noch nicht gab.  Intuitiv spürte ich jedoch, wie ihr das Erinnern an gute Zeiten  für einige Momente Entspannung verschaffte.

Zwischendurch gab es für mich extrem viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Was tun, wenn jemand nicht wahrhaben will, dass er stirbt? Was tun, wenn jemand vor lauter Angst aus dem Fenster springen will? Was tun, wenn jemand nicht mehr er selbst ist? Die Zustände meiner Mutter machten mir zu schaffen. Auch, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich damit umgehen sollte. Ich war einfach für sie da, munterte sie auf, tat Alles in meiner Macht stehende, um ihr zu helfen. Die Belastung für mich war dabei so gross, dass ich bei ihrem Tod einfach nur ausatmete und froh war, es endlich geschafft zu haben. Tatsächlich erwachte ich noch Monate später immer mal wieder mitten in der Nacht, weil ich träumte, meine Mutter lebe noch und ich mit der Belastung ihrer Krankheit nicht fertig würde. Jeweils erst wieder beruhigt war, als ich aufwachte und wusste, dass sie tot war und in Frieden ruhen durfte.

Was für ein schwieriges, äusserst lehrreiches Jahr! So, das schwor ich mir, wollte ich nicht sterben. Und so hilflos wollte ich nie mehr im Leben gegenüber einem todkranken Menschen stehen. Rückblickend würde ich sogar sagen, dass die Begleitung meiner todkranken Mutter die schwierigste Zeit meines Lebens war. Gleichzeitig auch die Lehrreichste.  Dieses Trauma und diese Hilflosigkeit veranlassten mich, nach Mitteln und Wegen zu suchen, mich selbst zu stabilisieren und mehr über das Sterben zu erfahren.

Mit dem Jahreskurs „Tao der Frau“ hatte ich genau gefunden, was ich brauchte. Keine Theorie, nur Erfahrung zählte. Klarheit in Gedanken habe mit der Ernährung zu tun, behauptete die Kursleiterin und wir hatten den Auftrag, drei Wochen auf Zucker zu verzichten. Später fragte sie uns überhaupt nicht nach unseren Erfahrungen mit den Wochen ohne oder wenig Zucker. Vielmehr kontrollierte sie wortlos unsere Zungen. Gab es links und rechts Eindrücke, dann hatten wir eben doch Zucker gegessen, dies zeigte eine geschwächte Milz mit Zungenabdrücken an. Und wer diese Eindrücke hatte, dem wurde das Geld zurückbezahlt und musste heim. „Ich kann hier keine Frau gebrauchen, die  ihre Aufgaben nicht macht und die ganze Gruppe aufhält“, sagte sie und wir wussten, wo es geschlagen hat. Sie hatte es satt, sich im christlichen Gedanken stets nach den schwächsten der Gruppe richten zu müssen. Deshalb musste immer mal wieder eine Frau heimgehen, weil sie uns aufhielt, richtig weiter zu kommen. Natürlich lernte ich in diesem Kurs viel über chinesische Ernährung, über den kleinen und grossen Energiekreislauf, über die Chakren und Organe. Das Hauptsächliche war jedoch dieser total neue Gedanke, sich mit Stärkeren zusammen zu tun. Sich nicht stets nach dem Schwächsten zu richten. Nicht mit den Schwächsten unter zu gehen.

Auch die Tatsache, dass wir kaum sprachen war neu. Zum Beispiel ging es darum, unseren Körper, der nun schon langsam Alterungszeichen aufwies, zu akzeptieren und zu lieben. Wie gerne hätten wir dabei stundenlang darüber diskutiert um allen mitzuteilen, wie gut wir es mit unserem Körper hatten. Doch dies war nicht gefragt. Vielmehr sagte sie eines Morgens: „Sitzt im Kreis, der Reihe nach zieht sich nun jede Frau aus, steht in die Mitte und tanzt uns vor! Dann wisst ihr genau, ob ihr Euren Körper wirklich liebt!“

Bis Weihnachten hatten wir Kursteilnehmerinnen unsere Milz gestärkt und stundenlang zentriert. Wir entwickelten ein Kraftzentrum im Bauch, das mir noch heute Stabilität gibt. Sobald ich spüre, dass es nachlässt baue ich diesen Anker in meiner Mitte wieder auf.

Fast zeitgleich besuchte ich ein Seminar bei Herrn Dr. J. Canacakis. Dort lernte ich den Umgang mit Gefühlen wie Trauer, Wut, Zorn, Schuldgefühlen, Verzweiflung, Anklage und vielem mehr, was meine Mutter in ihrer wirklich schlimmen Krankheit empfand.  Ich hatte mich fast schon entschlossen, eine Ausbildung für Trauerbegleitung zu machen, entschied mich jedoch schlussendlich für die FengShui Ausbildung.  Ich hatte vor der Krankheit meiner Mutter schon so viel in das Chinesische investiert und fühlte mich in der chinesischen Philosophie zu heimisch, um mich einem ganz anderen Thema zu widmen. Vielleicht sah ich auch keinen Anlass, mich weiter mit dem Thema Lebensende zu beschäftigen, weil es meinem Vater  damals noch sehr gut ging.

Erst später zwang mich seine Hilflosigkeit dem Alter gegenüber, nachzufragen, wozu denn das Alter in unseren Tagen gut ist.

 

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