Leseprobe: Meine Kindheit

Zwischen Tradition und Moderne

Vordergründig galt unsere Familie als sehr modern: In den 1950er Jahren wohnten wir in einem neuen Haus  mit allen technischen Errungenschaften der Nachkriegsjahre, mein Vater drängte meine Mutter dazu, endlich die Autofahrprüfung zu machen,  abends schauten wir fern, körperliche Bestrafungen der Kinder galten als Versagen der Erzieher und im Advent brannten vor dem Haus elektrische Kerzen an einer Ziertanne.

Mein Vater bewunderte die Amerikaner für deren Optimismus, deren Kampfgeist, deren überwältigenden Sieg über die Nazis, deren Konsumgüter. Er war mutig und selbstbewusst, er wusste, dass er alle Chancen auf Wohlstand hatte, wenn er nur genügend arbeitete. Viel arbeiten, es zu etwas bringen, sich etwas leisten und konsumieren können – dies waren seine Werte. Ein erfolgreiches Leben verband unser Vater mit dem finanziellen Polster auf dem Konto.  Viele Männer aus dem oberen Mittelstand dachten so wie er, schliesslich hatten sie die Krisenjahre und auch den 2. Weltkrieg miterlebt und kannten von Jugend an finanzielle Unsicherheit.

Seine, damit auch unsere Welt, war in den 1950er Jahren übersichtlich: „Die Amerikaner sind die Guten, die Russen sind die Bösen“. Noch schlimmer konnten nur die Chinesen sein, aber die waren keine Bedrohung für uns, weil sie am anderen Ende der Welt lebten und wir nicht dachten, je mit ihnen in Kontakt zu kommen. Die Sowjetunion jedoch blockierte Ende Juni 1948 ein Jahr lang die Zufahrtswege nach Berlin. Die drei westlichen Sektoren in Berlin mussten danach über eine Luftbrücke versorgt werden. Moskau, das stand für uns klar, bereitete die Eroberung Westeuropas vor und auch die Schweiz war ernsthaft bedroht. Es schien sogar in der Schweiz Kommunisten zu geben, die mit Moskau sympathisierten. Es galt, sich militärisch gegen die Russen zu wappnen. 1957 erhielt jeder Schweizer Soldat eine neue persönliche Waffe, das Sturmgewehr 57. Es war auch eine Sportwaffe, das Übungsgerät der Schützenvereine. Stolz verkündete das Soldatenbuch: „Es gibt nur zwei Kantone, die eine grössere Bevölkerungszahl aufweisen, als der schweizerische Schützenverein Mitglieder hat, nämlich 450‘000. Rund jeder zehnte Schweizer ist Schütze und übt ausserdienstlich seine Schiesskunst in einem Schützenverein seines Wohnortes.“

Schützenkönig zu sein hatte deshalb in den 1950er Jahren eine ganze andere Bedeutung als heute. In der Dorfgemeinschaft brachte zu dieser Zeit der Titel gute soziale Anerkennung. Mein Vater, der regelmässig ausgezeichnete Resultate mit der Pistole und dem Karabiner erzielte, schlief zur Selbstverteidigung jahrelang mit der griffbereiten Pistole. Er konnte, wenn es sein musste, sich und seine Familie verteidigen.

So wie man heute einem Kind nahe legen würde, frühzeitig mit Golf anzufangen,  wurden wir Kinder frühzeitig in die Schiesskunst eingeweiht. Unser Vater trainierte oft im Schützenhaus, hatte sogar einen eigenen Schlüssel  dazu und nahm uns Kinder gelegentlich mit, um uns das Schiessen zu lehren. Mein erstes Taschengeld verdiente ich im Schützenstand: Die Zielscheiben wurden mittels Drähten vom Schützenstand zum 300 Meter entfernten Ziel geführt. Unter den Zielscheiben gab es einen Graben, wo in der Regel junge Männer darauf warteten, mit bestimmten Kellen den Einschuss auf der Zielscheibe anzuzeigen.  Es galt, sich gut zu konzentrieren, um die Angabe der Kellen laut und deutlich mitzuteilen und den Wert schriftlich einzutragen.

Hatte ein Schütze einen guten Tag, gelangen ihm die Einzelschüsse oder Serienfeuer, erhielt ich manchmal zusätzlich zu den Fr. 5.- als Nachmittagslohn auch noch ein „Trinkgeld“.  Niemals hätte ich jedoch deswegen einen besseren Treffer eingetragen.  Ich war absolut gewissenhaft und trug stets die angezeigte Punktzahl ein. Übrigens trugen weder ich noch je ein Schütze einen Ohrenschutz. Dies schien uns damals nicht notwendig.

Nein,  es gab in unserem Dorf keine Frau, die sich zum Schützenhaus gewagt hätte. Meine Schwester und ich waren sogar die einzigen weiblichen Schreiberinnen und wohl nur toleriert, weil mein Vater ein Meisterschütze und auch spendables Vereinsmitglied war. Ich kann mich erinnern,  dass mich mein Vater am Schluss der Schiessveranstaltung auch ein paar Schuss abfeuern liess. Dabei hielten einige Männer, die mich dabei umzingelten, fast den Atem an. So, als könnten sie nicht glauben, dass auch Mädchen schiessen können. Ich sah, dass mein Vater stolz auf mein Ergebnis war. Er fand sogar, dass ich talentiert sei und kaufte uns einen Lienhard Einsatzapparat, mit dem wir mit Vaters Karabiner auf unserer grossen Terrasse mit nur 10 Meter Entfernung auf eine kleine Scheibe zielen und schiessen konnten.  Mit unseren Nachbarskindern veranstalteten wir  danach kleine Schützenfeste auf unserer Terrasse. Unser Vater mahnte uns, Disziplin zu haben. Der Karabiner musste aus der Hand, solange ein Kind vorne bei der Scheibe war und es durfte erst wieder gezielt werden, wenn alle Kinder hinter dem Schützen standen. Da wir stets gehorsam waren, hielten wir uns an diese Vorgabe und hatten nie irgendein Problem beim Schiessen. Es gab keine heiklen Situationen, denn jedes Kind wusste, wie gefährlich Ungehorsam dabei sein konnte. Ich weiss nicht genau, wann bei uns das Schiessen im Sande verlief, vielleicht glaubten auch wir, dass dies nichts für Mädchen ist. Vielleicht hörten wir auch einfach auf, weil wir es nur zur Freude unseres Vaters getan hatten.

Trotz der vordergründig modernen Lebensweise waren wir eine traditionelle Familie. Meine Mutter und wir Kinder taten, was unser Vater entschied. Was er sagte, galt uns als Richtung. Wir befolgten seine Anordnungen nicht etwa schmollend oder widerstrebend, sondern in aller Selbstverständlichkeit. Als ich meine Mutter kurz vor ihrem Tod nach ihren Wünschen, Zielen und Bedürfnissen in den 1950er Jahren befragte, schaute sie mich mit grossen Augen an und erwiderte nach einer Weile: „Ich hatte keine Ziele, keine Wünsche und schon gar nicht Bedürfnisse. Ich habe gearbeitet und getan, was Papa sagte!“ Dass sie nicht sehr viele Freiheiten hatte, hing jedoch nicht nur mit unserem Vater zusammen, sondern mit der damaligen Gesellschaft, die ganz bestimmte Vorgaben an eine Familie, an eine Frau im Besonderen hatte und sie diese stets zu erfüllen suchte. Unsere Mutter wollte es allen recht machen und sah sich mit unendlich vielen Geboten und Verboten konfrontiert. Eines davon hing mit der Kleiderfrage zusammen. Sowohl hautenge als auch weitausschweifende Kleider erwiesen sich in den 1950er Jahren neben Nylonstrümpfen als absolute Notwendigkeit. Jahr für Jahr wurde von Paris aus diktiert, welche Mode tragbar war. Bestimmte Farben, bestimmte Formen, sowie die ganz bestimmte Länge der Kleider waren klar definiert, von den Stars demonstriert und von unzähligen Frauen nachgemacht. Wer modisch war, folgte dem Modediktat. Es wäre – zumindest bei uns auf dem Land als oberes Mittelschichtmitglied – absolut unmöglich gewesen, einen kurzen Mantel zu tragen, wenn gerade lange Mäntel vorgeschrieben waren. Man hätte nicht mit einem roten Mantel zum Festgottesdienst gehen können, wenn blaue Mäntel angesagt waren. Es gehörte sich schlicht nicht und Frauen wie meine Mutter hätten nicht gewagt, sich nicht an dieses Modediktat zu halten. Zusätzlich zu den Gesetzen der Mode aus Paris gab es für unsere Mutter noch den Balanceakt zwischen einem nicht zu teuren Kleid, weil sie damit als verschwenderisch gegolten und einem nicht zu günstigen Kleid, weil sie damit eventuell die Sippe blamiert hätte.  Kein Wunder hasste sie es, ein neues Kleid kaufen zu müssen, nur weil es ein Familienfest gab. Trotzdem „musste“ sie dies tun, denn die damalige Gesellschaft verlangte dies von ihr.

Immerhin war es unserer Mutter vergönnt, zu arbeiten. Interessanterweise waren in den 1950er Jahren gerade viele Frauen auf dem Land berufstätig, weil sie Bäuerinnen waren. Auch die Gattinnen von Geschäftsinhabern wie unsere Mutter waren berufstätig. Ansonsten arbeitete in der Regel eine Frau in den 1950er Jahren nur solange, bis sie von einem Mann zum Altar geführt wurde. Eine Berufskarriere war nicht wirklich vorgesehen. Frauen, die damals im Beruf Karriere machten, können an einer Hand abgezählt werden.

Eine wirklich erfolgreiche Frau angelte sich einen Mann, der bereits auf der beruflichen Karriereleiter hochgestiegen war und seiner Frau ein sorgenfreies Leben garantieren konnte. Der Erfolg einer Frau mass sich an ihrer Fähigkeit, sich gut verheiraten zu können. Vor dem Altar versprach die Frau dafür dem Mann – ihrem Ernährer – absoluten Gehorsam. Er entschied, wie, was, wann, wo die Frau tat.  Unser Vater hatte jedoch mit dem Geschäft, seinen Angestellten und den Aushilfen so viel zu tun, dass er prinzipiell nicht mit dem Haushalt, dem Privaten und dem Kinderkram belastet werden wollte. Deshalb hatte meine Mutter im Vergleich zu anderen Ehefrauen dieser Zeit eine ziemlich grosse Entscheidungsgewalt. Ihr oblagen der ganze Haushaltsbereich, das private Leben und die Erziehung der Kinder mit allen Entscheidungen und allen Konsequenzen. Den grossen Rahmen jedoch diktierte der Vater auf eine für ihn typisch subtile Art. Niemals hätten wir ihn schreien oder toben gehört, denn dies waren für ihn Machenschaften der Unterschicht. Auf dieses Niveau liess er sich niemals fallen. Wir waren eine anständige Familie, die ihre Gefühle stets im Griff hatte. Dies zeichnete damals den Mittelstand aus.

Dass  unsere Mutter nicht politisch interessiert war, hing vor allem damit zusammen, dass sie dies nicht sein sollte. Politik gehörte ganz klar zur Männerdomäne, davon verstanden Frauen überhaupt nichts.  Ich kenne Frauen, denen die Männer untersagten, die Zeitung zu lesen, weil sie befürchteten, dass die Frauen sich eine eigene Meinung über das Geschehen in der Welt machen würden. Meine Mutter durfte in unserer modernen Familie lesen, was immer sie wollte. Sie wusste jedoch stets, dass sie sich nicht ungefragt in ein Männergespräch einzumischen hatte, keine andere Meinung zu haben hatte. Damit hätte sie unseren Vater vor seinen Kollegen blamiert.

Männer begründeten im Parlament die Verschonung vor der Invasion durch fremde Truppen in den vorangehenden Weltkriegen mit dem Einsatz der Armee und der Gleichsetzung von Wehrpflicht mit Staatsbürgerschaft  sowie das fehlende Stimmrecht für die Frauen. Die meisten Männer schämten sich nicht, dass die Schweiz als quasi einziges Land Europas keine politischen Rechte der Frauen kannte. Am ersten Sonntag im Februar 1959 sagten zwei Drittel der abstimmenden Männer „Nein“ zur Einführung des Frauenstimmrechts und waren stolz auf ihre Entschlossenheit.

Es mag sein,  dass sich zu dieser Zeit in Städten wie Zürich schon Frauen gruppiert hatten, um für das Frauenstimmrecht zu kämpfen. Bei uns war dies ganz anders. Wenn unser Vater fand, dass eine Frau schliesslich an den Herd gehört und Besseres zu tun hat, als sich für Politik zu interessieren, dann fanden meine Mutter und wir Kinder dies auch. Wir hinterfragten die Ansichten unseres Vaters nicht, er war der absolute Held unserer Familie und schien uns unfehlbar.

Niemals fühlten wir uns eingeengt in unserem Tun, weil er bestimmte, was wir zu tun hatten und niemals fühlten wir uns zurückversetzt, weil für ihn andere Rechte galten als für uns.  Seine Privilegien waren für uns so normal, dass sie uns gar nicht erst auffielen. So fühlten wir uns in einer aufgeschlossenen und modernen Familie, denn im Vergleich zu anderen Mädchen hatten meine Schwester und ich viele Freiheiten.

Sehr aufgeschlossen war unsere Familie auch bezüglich Nacktheit. In unserem grossen Badezimmer wuschen wir uns alle gleichzeitig. Im Haus nackt herumzulaufen verband ich ausschliesslich mit dem Vorhandensein von genügend Wärme und weil es bei uns eine Zentralheizung gab, hätte ich keinen Grund gesehen, dies nicht zu tun. Dass es in meiner Primarschulklasse Mädchen gab, die ihre Väter, Mütter und Brüder nie nackt gesehen hatten, wusste ich damals noch nicht.

 

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