Fragen zum Alter Die dritte und vierte Lebensphase

Unser Altersbild

Das in den Medien vermittelte Altersbild zeigt die markante Alterung der Gesellschaft vorwiegend als Problem. Die Gesellschaft sieht in körperlich geschwächten, fragilen, alternden Menschen vor allem eine Belastung für das Kollektiv. Westliche Gesellschaften sind geprägt von kulturellen Werten, die der Generation der jungen Erwachsenen entsprechen: Leistung, Konsum, Genuss,  Unabhängigkeit, Mobilität, Gesundheit, Fitness, Geschwindigkeit, Veränderung. In solchen Werten wird das Potenzial einer Gesellschaft gesehen. Alte Menschen entsprechen nicht diesem Idealbild und sind aufgefordert, alles zu unternehmen, um nicht alt zu werden oder wenigstens die äusseren Zeichen des Alters zu minimieren.

Deshalb erfinden wir auch wohlgemeinte Sprüche wie „Man ist nur so alt, wie man sich fühlt“ und zählen uns trotz unseres Alters nicht zu den alten Menschen. Lieber orientieren wir uns bis ins hohe Alter an den Massstäben der jungen Erwachsenen und bejammern höchstens das altersbedingte Zurückbleiben hinter diesen Werten.

Das Alter mit seinen Aufgaben, Herausforderungen und auch Chancen blenden wir jedoch in der Regel aus.

Tasten wir uns deshalb vorsichtig an diese Lebensphase, die uns häufig derart grosse Angst einflösst, dass wir sie nicht wahrnehmen wollen.

Junges Alter / hohes Alter

Früher ging man von einer dreifachen Unterteilung des Lebenslaufs in Kindheit/Jugend, mittleres Erwachsenenalter und Alter als Phase des Ruhestandes aus. Die Ausweitung der Lebenszeit führte dazu, dass heute die Altersphase nochmals in eine dritte Lebensphase des jungen Alters und eine vierte Lebensphase des hohen Alters oder der Hochaltrigkeit unterteilt wird. Dabei wird diese Unterteilung in der Gerontologie (Altersforschung) heute weniger nach Kriterien des chronologischen Alters, sondern eher nach Gesichtspunkten der Gesundheit und der Alltagsbewältigung vorgenommen.

Das dritte Lebensalter der „jungen Alten“ ist gekennzeichnet durch Befreiung von beruflichen und familiären Verpflichtungen, gute Gesundheit und selbständige, aktive Lebensführung im vollen Besitz der körperlichen und geistigen Kräfte. Junge Alte verstehen sich in der Regel noch nicht als alt und pflegen einen Lebensstil, der stärker der Kultur jüngerer Menschen angepasst ist. Lebenslanges Lernen, möglichst lange Aktivität, aber auch ein möglichst langer Erhalt der Gesundheit und Fitness wurden zu neuen Normvorstellungen eines erfolgreichen Alterns. Wer bei diesen Normen nicht mithalten kann, fällt in das vierte Lebensalter, das der Hochaltrigkeit zugeteilt wird.

Hochaltrigkeit ist jedoch keineswegs mit Hilfs- und Pflegebedürftigkeit gleichzusetzen. Es lässt sich aber nicht bestreiten, dass mit zunehmendem Alter, auch bei guten gesundheitlichen Voraussetzungen, die Verletzlichkeit und das Risiko für geistige und körperliche Einbussen ansteigen. Die Aussicht, hilfs- und pflegebedürftig zu werden, steigt massiv an. Trotzdem darf betont werden, dass die Ausdehnung der Lebensphase des Alters in den vergangenen 100 Jahren vor allem eine Verlängerung gesunder Lebensjahre mit sich brachte. Pflegebedürftig werden wir heute nicht länger als früher, denn dies bezieht sich immer noch auf die letzten Lebensjahre. Demzufolge kann das gesundheitlich beschwerlich ausfallende Alter heute zunehmend auf eine begrenzte Zeit am Lebensende komprimiert, aber nicht überwunden werden.

Während das dritte Lebensalter dank steigender Zahl aktiver und gesunder Altersrentnerinnen und Altersrentner eine positive gesellschaftliche Aufwertung erfuhr, konzentrieren sich die traditionellen negativen Bilder zum Alter immer stärker auf das hohe Lebensalter. Denn dieses vierte Lebensalter ist durch zunehmende biologische Abbauprozesse, reduzierte Reservekapazitäten, erhöhte Verletzlichkeit, steigendes Risiko funktionaler Abhängigkeit sowie eine insgesamt schlechtere Gewinn-Verlust-Bilanz charakterisiert.[1]

Wir erfreuen uns  aber nur am Alter, solange wir fit, gesund, geistig und körperlich aktiv genug sind, um den Werten der älteren Erwachsenen gerecht zu werden.

Sollte dies nicht mehr möglich sein,  laufen wir Gefahr, keine Ahnung zu haben, was wir mit den letzten Lebensjahren anfangen könnten. Denn die Hochaltrigkeit gilt mehr als Last denn als Lust, weshalb ihre Symptome so lange und so weit wie möglich zu bekämpfen und zu vermeiden sind. Das Ziel ist kein gelingendes Altern, sondern die Abschaffung des Alterns.[2] So kennen wir häufig weder die Chancen noch die Aufgaben dieser Zeit, weil wir uns zu sehr darauf konzentrieren, nicht alt zu werden. Dass wir dabei scheitern, ist offensichtlich.

Der Wunsch, lange zu leben, ist immer mit der Hoffnung verbunden, in der verbleibenden Zeit Gutes zu erleben, eigene Ziele zu verwirklichen und auch Wesentliches zu bewirken. Die Frage ist, ob uns dies auch im vierten Lebensalter möglich sein kann.

Das Alter sollten wir als eine weitere Lebensphase betrachten

Die moderne Lebenslaufforschung geht davon aus, dass jede Lebensphase ihre eigenen Möglichkeiten, Grenzen und Herausforderungen hat. So gibt es verschiedene Aufgaben, die während jeder Lebensphase zu erfüllen sind. Nicht nur in der Kindheit/Jugend und im Erwachsenenalter, sondern auch im Alter. Dabei ist zu erkennen, dass jede Lebensphase auch Chancen bietet, die in der vorherigen Lebensphase noch nicht zu bewältigen wären.

All diese Phasen sind als gleichwertig und gleich wichtig zu betrachten, keine kann Massstab sein für die anderen, jede Phase hat ihr eigenes Recht und ihre eigene Bedeutung. Thomas Rentsch und Morris Vollmann ziehen daraus den Schluss, dass jedem Lebensalter auch eigene, spezifische Sinnentwürfe und Perspektivenwechsel zukommen. [3]

Einer, der das schon vor dem Aufkommen gerontologischer Forschung klar erkannt hat, ist Hermann Hesse. Er schreibt:

Das Greisenalter ist eine Stufe unseres Lebens und hat wie alle anderen Lebensstufen ein eigenes Gesicht, eine eigene Atmosphäre und Temperatur, eigene Freuden und Nöte. Alt sein ist eine ebenso schöne und heilige Aufgabe wie Jung-sein, vorausgesetzt, dass sie mit Ehrfurcht vor dem Sinn und der Heiligkeit allen Lebens vollzogen wird. Um als Alter seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss man mit dem Alter und allem, was es mit sich bringt, einverstanden sein. Man muss Ja dazu sagen. Ohne dieses Ja geht uns der Wert und Sinn unserer Tage verloren.

Auch von diversen Gerontologen, Philosophen und Psychologen wird heute immer wieder betont, dass ein Ja-sagen zum eigenen Alter die Voraussetzung eines selbstbewussten Alterns ist, das als sinnvoll erlebt werden kann. Auch Seelsorge in der Begleitung hochaltriger Menschen hat wesentlich zum Ziel, sie darin zu ermutigen, Alt-sein in einer Haltung des Pro-Aging zu bejahen und sich bewusst darauf einzulassen.[4]

Was können wir im hohen Alter noch lernen, was wir vorher nicht bewältigen konnten?

Wie sollte es ausgerechnet in einer verletzlichen, hilfs- und evtl. pflegebedürftigen Phase möglich sein, noch Herausforderungen zu meistern, für deren Erfüllung vorher die Kapazität nicht reichte? Was kann sich uns denn im Alter erschliessen, was jüngeren Menschen nicht in gleicher Weise zugänglich ist?

Die Frage drängt sich auch auf, welches Ereignis uns im hohen Alter die Möglichkeit gibt, uns nochmals auf einen neuen, vorher nicht erreichbaren Entwicklungsschritt, einzulassen.

Es ist die persönliche Todesahnung, die Chancen frei setzt.

Obwohl wir natürlich alle „wissen“, dass wir einmal sterben werden und obwohl wir mit klarem Menschenverstand den Sinn des Sterbens als vernünftig und notwendig anerkennen, lassen wir den Tod nicht in unsere Nähe kommen.

Im vierten Lebensalter, das sich wie oben beschrieben nicht auf das chronologische Alter bezieht, sehen wir uns jedoch mit unserem persönlichen, unserem eigenen Tod konfrontiert. Wir erfassen, dass der Tod unserem eigenen Leben Grenzen setzt und sich nicht mehr auf der Verstandesebene definieren lässt.

Wenn wir diesen Gedanken zulassen können und unsere eigene Endlichkeit auf allen Ebenen erfassen, kristallisiert sich bei uns persönlich das Wesentliche des Lebens heraus und lässt das Oberflächliche erblassen.[5] Auch spürt man die persönliche, eigene Identität recht gut. Menschen, die von einer lebensbedrohlichen Krankheit erfasst sind, stellen fest, dass sie besser als je zuvor wissen, wer sie sind, was ihnen wichtig ist und was sie in ihrem Leben noch verwirklichen wollen oder müssen.[6]

Wie nie zuvor entwickeln wir wertvolle Fähigkeiten und lernen, zwischen Wichtigem und Unwichtigem, zwischen wirklich Tragendem und nur vermeintlich Tragendem zu unterscheiden.

Chancen und Aufgaben im hohen Alter

Im hohen Alter geht es um die Wahrung einer möglichen Lebensqualität und Lebenszufriedenheit angesichts abnehmender Ressourcen und zunehmendem Unterstützungsbedarf.[7] Denn das Leben ist nicht zu Ende und will sinnvoll zu Ende gelebt werden. All das Gute, das auch in dieser letzten Lebensphase möglich ist, soll ausgeschöpft werden. Einseitig negative Altersbilder verhindern jedoch oft, Möglichkeiten wahrzunehmen und Pläne zu realisieren, die durchaus noch realistisch sind.[8]

Laut Ingrid Riedl[9] bedeutet Altern sowohl  Leben ausschöpfen als auch Leben loslassen. Bis ins hohe Alter gibt es sowohl Gewinne als auch Verluste. Während jedoch das dritte Lebensalter eher unter dem Zeichen des Ausschöpfens steht, muss im vierten Lebensalter vorwiegend die Herausforderung des Loslassens bewältigt werden. Dabei geht es darum, sich im Alter über sich selbst und die existentiellen Bedingungen der nun erreichten Lebensphase bewusst zu werden. Das heisst, verbliebene oder sich neu bietende Möglichkeiten zu erkennen und gleichzeitig die unausweichlichen Begrenzungen und Belastungen des hohen Alters anzuerkennen und zu berücksichtigen.[10]

Lebenserfahrung weitergeben

Die wichtigste Quelle für Lebenssinn sind zweifellos soziale Beziehungen. Die Erfahrung, für andere Menschen bedeutsam zu sein, ist für alte Menschen erwiesenermassen sehr wichtig. Obwohl heute die Lebenserfahrungen der Alten kaum noch hilfreich für die Bewältigung der heutigen Probleme sind, kann das Vorleben des eigenen Alternsprozesses durchaus als ein Weitergeben von Lebenserfahrung dienen. Doch hier können heutige alte Menschen nicht einfach auf frühere Erfahrungen zurückgreifen, sondern müssen laufend neue Erfahrungen mit ihrem eigenen Prozess des Älterwerdens machen. Wie sich die heutigen Alten diesem Entwicklungspotential und den Belastungen stellen, wird von jüngeren Generationen sehr genau beobachtet. Das Vorbild zählt, wirkt und entwirft die Altersbilder der jungen Generationen.

Ob die junge Generation ängstlich  oder mutig und hoffnungsvoll auf das eigene Altwerden blickt, hängt davon ab, wie es heutigen Alten gelingt, gangbare und lohnenswerte Wege zu finden um dem hohen Alter einen Sinn zu geben..[11]

Dem eigenen Leben auch im hohen Alter Sinn geben

In jeder Lebensphase drängt es uns dazu, unserem Leben einen Sinn zu geben. Wenn uns die anerkennende Tätigkeit fehlt und wir als Alte meinen, keine Vorreiterrolle mehr zu haben und nicht mehr gebraucht zu werden, scheint es schwierig, einen Sinn im Leben zu finden.

Anders als in früheren Jahrhunderten, in denen Sinn Konstrukte gesellschaftlich und kirchlich vorgegeben waren und kollektiv geteilt wurden, gibt es heute jedoch in westlichen, pluralistischen Gesellschaften kaum noch so etwas wie verbindliche Sinnvorgaben. Jedes Individuum kann nicht nur, sondern muss für sein Leben selbst eine Antwort auf die Sinnfrage geben.[12]

Sinnfindung heisst, das eigene Leben in einen Zusammenhang von als stimmig und bedeutsam empfundenen Erfahrungen, Werten und Aufgaben eingebunden zu erkennen, die es lebens- und bejahenswert erscheinen lassen.[13] Dies gelingt laut diversen Gerontologen und Psychologen mit einem begleiteten Lebens-Rückblick sehr gut.

Blandine-Josephine Raemy-Zbinden
Januar 2017

 


 

[1] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seiten  15 und 16

[2] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seite 21

[3] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seite 72

[4] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seiten 75 und 76

[5] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seite 107

[6] Vgl. Kast Verena: Aus dem Leben schöpfen – Das Verena- Kast- Lesebuch, 2016, Seite 15

[7] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seite 17

[8]Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seite 99

[9] Prof. Dr. theol., Dr. phil Akkreditierte Lehranalytikerin und Supervisorin
Honorarprofessorin für Religionspsychologie an der Universität Frankfurt
Psychotherapeutische Praxis in Konstanz

[10] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seite 97

[11] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seiten 101 und 102

[12] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seite 36

 

[13] Vgl. Heinz Rüegger: Vom Sinn im  hohen Alter- Eine theologische und ethische Auseinandersetzung, 2016 Seite 36

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