Besonders während stilleren Zeiten und im Alter tauchen Erinnerzungsfetzen aus dem gelebten Leben auf, denen wir uns mehr oder weniger gern hingeben. Guten Bekannten oder Nachkommen erzählen wir öfters von den gleichen Erlebnissen und hören nur ungern den umgehenden Kommentar: „Das hast Du schon x-mal erzählt……”
Jedes Leben ist enorm reich an Erfahrungen und birgt grosse Erzählschätze. Weshalb erinnern wir uns dann immer wieder an das Gleiche und erzählen dieselben Erlebnisse mehrmals?
Wir Menschen erinnern uns vor allem an Dinge/Begebenheiten, die wir das erste Mal sahen, taten oder erlebten. Den Alltag speichern wir nicht vorrangig, es sei denn, dass etwas Unvorhergesehenes, etwas sehr Schönes, vor allem aber etwas Unangenehmes geschieht. Wenn wir uns später im Erinnerungsfluss treiben lassen, bleiben wir immer wieder an den gleichen prägend gespeicherten Erlebnissen hängen. Diese Erinnerungen erhalten durch das wiederholte Erzählen mehr und mehr Gewicht und prägen sich noch markanter ein. Deshalb halten wir sie für unser gelebtes Leben. Fachkräfte weisen jedoch darauf hin, dass diese Art des Erinnerns in der Regel keine Ausgewogenheit bietet. Der Persönlichkeit entsprechend kann die Summe dieser Erinnerungen das Gefühl geben, im ganzen Leben stets mit Schwierigkeiten konfrontiert gewesen zu sein, immer wieder in eine Opferrolle gedrängt worden zu sein oder auch, niemals einen Fehler gemacht oder alles besser gewusst zu haben.
Die Biografie-Arbeit, welche heute von verschiedenen Therapeuten angeboten wird, hat prinzipiell zum Ziel, vernachlässigt gespeicherte Facetten des Lebens zu beleuchten, um die zu prägnant gespeicherten Erinnerungen in Relation zu bringen. Es geht vor allem darum, sich die guten Seiten des Lebens bewusst zu machen und zu erfahren, wie man schwierige Zeiten meisterte.
Tatsächlich können verschiedene Fachleute belegen, dass die Beschäftigung mit den guten Seiten des eigenen Lebens, mit vergangenen freudigen Erlebnissen, mit Stolz und Dankbarkeit besonders im Alter für gute Gefühle sorgt. Prof. Andreas Maerker (Universität Zürich) und Prof. Verena Kast weisen darauf hin, dass dadurch gute Erfolge bei Depressionen erzielt werden können und Menschen allgemein weniger depressiv und geistig beweglicher sind.
Prof. Verena Kast rät, es einmal mit einer Freudenbiografie zu versuchen, denn damit nehmen wir uns aus den gewohnten Biografie-Gleisen heraus und richten den Blick auf eine positive Fragestellung: Wie habe ich zu welcher Zeit Freude erlebt? Was ist aus dieser Freude im Laufe des Lebens geworden? Die Frage ist auch, wie wir uns diese Freude aus der Vergangenheit bewahren konnten/bewahren können. Es geht darum, herauszufinden, wo und wann wir am meisten Freude empfinden können oder empfunden haben und wie diese Freude wieder aktiviert werden kann.[1]
Die Neurologin Dr. Claudia Croos-Müller zeigt sogar auf, dass dieses aktive Erinnern an Freude und weitere gute Zeiten im Hirn Glückshormone produziert und wir uns dadurch gut fühlen. Sie empfiehlt auch, sich allgemein mit Schönem zu befassen, weil dadurch gute Gefühle entstehen. Diese Aussage deckt sich mit der Beobachtung, die Prof. Andreas Kruse mit dementen Menschen machte, welche nicht auf der Verstandesebene erreichbar sind. Unser Inneres spricht auf kunstvolle Bilder, auf berührende Musik, auf schöne Texte oder Gedichte, auf Blumen, auf liebliche Düfte oder liebevolle Berührungen an. Dadurch fühlen wir uns innerlich getragen, geborgen, aufgehoben.
Erinnerungen sind jedoch stark abhängig von der gegenwärtigen Stimmung. Sind wir in einer freudigen Stimmung, fallen uns spontan freudige Erinnerungen ein. Sind wir verärgert, fallen uns Erinnerungen ein, die unsere schlechte Laune noch bestärken. Das heisst einerseits, dass wir unsere Geschichte auf verschiedene Weise erzählen können. Zudem heisst es auch, dass wir manchmal etwas Anregung benötigen, um uns an freudige Ereignisse, Kinderspiele, an Stolz und Dankbarkeit erinnern zu können.
Freundlich dem eigenen Leben gegenüber zu sein und uns selbst wohlwollend zuzuhören, will gelernt sein.
Als Anfang dient die bewusste Fragestellung und das bewusste Erinnern an Freude und freudigem Stolz. Hören uns beim Erzählen wohlgesinnten Menschen zu, sind wir auch anderen Menschen aus der Vergangenheit wohlwollender gegenüber.[2] Wir können dadurch nicht die Fakten unseres Lebens verändern, wohl aber unseren emotionalen Blick, den wir auf diese Fakten werfen.
Obwohl hinter der Freudenbiografie viel Forschung und Fachwissen steckt, ist sie in der Anwendung sehr einfach. Es geht nur darum, sich bewusst an einst gelebter Freude zu erinnern und diese Freude innerlich erneut zu erleben.
Vielleicht überraschen wir bei nächster Gelegenheit unsere Zuhörer mit einer neuen Geschichte und erzählen von unseren seinerzeitigen Spielen aus der Kindheit, den fröhlichen Liedern, den Tänzen in der Jugend, von der Musik unserer Zeit, interessanten Konzert- und Theaterbesuchen, von früheren beschwingten Filmen und spüren beim Erzählen erneut die damalige Leichtigkeit und Freude wieder.
Wie wertvoll könnte es an trüben oder kranken Tagen sein, wenn wir in unserer Freudenbiografie blättern könnten, die uns an all das Schöne unserers Lebens und an all unsere Aufssteller erinnern würde?
Blandine Raemy-Zbinden
März 2017
[1] Vgl. Kast Verena: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben – Die Kraft des Lebensrückblicks, 2014, Seite 78
[2] Vgl. Kast Verena: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben – Die Kraft des Lebensrückblicks, 2014, Seiten 40/41