Sommer 2010
Das flächenmässig grösste Sumpfgebiet Europas ist ein wahres Paradies, nicht nur für Ornithologen. Es erstreckt sich 164 km der Biebrza entlang, die zu den letzten auf ihrer gesamten Lange naturbelassenen Flüssen des Kontinents zählt.
253 der 280 Brutvogelarten Europas leben hier. Beachtenswert die Liste der Vögel, die hier häufig anzutreffen sind, anderswo als ausgestorben gelten.
Wir erleben mit der Ornithologin, die uns durch die Sümpfe führt eine wunderbare Zeit, kommen auch Elchen sehr nahe. Unsere Führerin begeistert uns für diese unberührte Natur mit all ihren Schätzen, hat ein spezielles Fernrohr dabei, damit wir die seltenen Vögel auch von einigen Kilometer Entfernung ansehen können. Die offene Herzlichkeit der Führerin lässt uns abenteuerlicher werden, als wir eigentlich wären. So durchstreifen wir einsame Wälder, durchqueren auch einen Tümpel schnellen Schrittes, damit sich die darin befindenden Blutegel nicht an uns festsaugen können….
Im Hotel Bartlowizna in der nahen Kleinstadt Goniadz wohnen wir bequem und sind für die polnischen Gäste eine Attraktion, weil wir uns als Schweizer in diese abgelegene Gegend Polens „verirrt“ haben.
Der Bialowieza Nationalpark liegt an der Grenze zu Weissrussland, gilt als letzter Primärwald Europas. Von seiner Bedeutung her wurde das 200 km2 grosse Biosphärenreservat auf polnischer Seite als Weltnaturerbe der UNESCO eingestuft. Insgesamt ist der Urwald 1300 km2 gross und wird von der polnischen und weissrussischen Grenze durchschnitten.
Das Betreten des innersten Kerns des letzten Tiefland-Urwaldes Europas ist ohne Führer nicht erlaubt. Die Führung wiederum fängt im Informationszentrum mit einer multimedialen Ausstellung über die Tiere und Pflanzen im Park an. Neben einigen sehr seltenen Vögeln, gelten die vielen wildlebenden Wisente und die einige Hundert Jahre alten Eichen als die Juwelen des Nationalparks.
Die alten Eichen werden als Naturdenkmäler betrachtet, ihr Wachstum und Befinden genau katalogisiert. Die Eichen können hier gut 600 Jahre alt werden. Nach dem Tod der Eiche bleibt sie weitere 100 Jahre stehen, bis sie umfällt. Nochmals gut 100 Jahre nagen die kleinen fleissigen Tierchen, bis sie die Eiche entsorg haben. Biologen, Botaniker, Ornithologen, Insektenforscher aus ganz Europa forschen in diesem Nationalpark, weil hier Pflanzen leben, die es sonst nicht mehr gibt. 3’500 Pilz- sowie 5’500 Pflanzenarten wurden bisher nachgewiesen, davon allein über 300 verschiedene Moosarten. Im Rahmen des Geobotanischen Instituts der Warschauer Universität forschen hier auch Studenten aus ganz Europa für ihre Diplomarbeit.
Die Führung durch den Bialowieza Nationalpark mit dem Förster gehört zum Beeindruckendsten, was ich in meinem Leben erlebt habe. Mit ihm an der Seite eröffnen sich ganz neue Welten im eigentlich bekannten Waldraum. Auch andere Sichtweisen sind anzunehmen. Weil Toni den Förster fragt, wie es denn mit den Borkenkäfern stehe, entbrennt eine Diskussion über diese kommerziellen Tannenwälder für Leute, die nicht warten können, den Baum zu Geld zu machen. Borkenkäfer sind im Urwald kein Thema, weil im europäischen Primärwald eine gesunde Diversifikation von Baumarten vorhanden ist. Insgesamt gibt es 26 verschiedene Baumarten im Primärwald. Deshalb im Verhältnis auch nur sehr wenige Tannen. Wenn gelegentlich ein paar von diesen wenigen Tannen von Borkenkäfern befallen sind, schadet dies dem Primärwald als Ganzes überhaupt nicht.
Der Förster klärt uns auf: Vor 4000 Jahren begann das Klima so zu werden wie heute. Man kann deshalb sagen, dass die Vegetation damals wie heute die Gleiche ist, die Gleiche wäre, sofern kein Mensch eingegriffen hätte.
Urwaldbäume wachsen extrem hoch, weil sie schnell ans Licht müssen. Haben eine kleine Krone, weil es wenig Platz für das Licht gibt. Deshalb erkennen wir z.B. die Linden nicht auf Anhieb. Sie sehen hier ganz anders aus. Nicht nur die Eichen werden übrigens 400 – 600 Jahre alt. Auch die Buchen, Erlen, Linden, Ulmen sowie der Ahorn leben hier ihrer eigenen Bestimmung gemäss sehr lange.
Zu unserer Überraschung ist der Boden nicht wie im Dschungel dicht bewachsen, eher karg, moosig. Dies, weil eben das Licht fehlt. Deshalb gibt es zwischen den Bäumen genügend Platz, auch für grössere Tiere wie Braunbären, Elche, Wisente, Tarpane (kleine Pferde, die es nur hier gibt), Luchse, Wölfe. Erst jetzt realisieren wir, dass die Auswahl der Tiere im Tierpark Langnau am Albis dem Primärwald in Europa nachempfunden ist.
Obwohl Prinz Philip von England schon in der 1970er Jahren den Wald besuchte, hat der touristische Aufschwung erst begonnen. Im Jahre 2000 gab es noch kein einziges Hotelbett in der Nähe. Heute ist die Auswahl gross. Auch kann man gut B&B schlafen. Jeder, der hier ein Haus hat, vermietet mindestens ein Zimmer. Zudem gibt es über 100 Touristenführer, die nur darauf warten, mit Stolz Touristen in verschiedenen Sprachen durch den Wald zu führen.
Auf die Frage, weshalb sich genau hier der Primärwald erhalten konnte, klärt uns der Förster ebenfalls auf:
Über Jahrhunderte gehörte dieser Wald jeweils dem Polnischen König als Jagdrevier. Jegliches Betreten dieses Waldes wurde mit dem Höchstmass bestraft. Nichts durfte hier verändert werden, kein Baum gefällt, keine Maus gejagt werden.
1795 – bei der Teilung Polens, fiel dieses Gebiet Russland zu. Überall wurde darauf hingewiesen, dass Russland das zugewiesene Gebiet ausgeblutet hat, rein nichts investiert wurde. Dem Jagdrevier des Polnischen Königs hat jedoch diese Übernahme durch Russland Aufschwung gebracht. Denn schon bald danach wurde eigens für den Russischen Zaren eine Eisenbahnlinie bis nach Bialowieza gebaut, damit der Zar angenehm zu seinem Jagdrevier reisen konnte.
Diese Eisenbahnlinie führte auch durch die sumpfigen Wälder nahe der Biebrza. Zwangsarbeiter legten unzählige Baumstämme in den Sumpf, damit die Bahn sicher durch dieses Gebiet fahren konnte. Gleichzeitig wurde ein Jagdschlösschen mit 324 Zimmern gebaut. Natürlich auch ein Empfangsgebäude am Bahnhof, sowie verschiedene Backsteinhäuser, welche immer noch vorhanden sind.
In der Umgebung vom Bialowieza arbeitete man fortan für den Zaren. Sei es im Schloss, in den Stallungen, als Forstwart oder Treiber bei der Jagd. Bis 1912 reiste der Zar mit Gefolge regelmässig an. Bei seiner Ankunft standen die Menschen jubelnd am Bahnhof, weil er jedem Anwesenden 5 Rubel schenkte. Damit konnte die Pacht für das ganze Jahr bezahlt werden.
Heute kann man im Empfangsgebäude am Bahnhof Bialowieza elegant dinieren, im Wasserturm für die Dampflock übernachten. Auch gibt es Anstrengungen, einen Teil der brachliegenden Schienen für den Tourismus zu nutzen.
Wir übernachten im 3-Sterne-Hotel Bialowieski in Bialowieza, das einen eher dunklen Speisesaal hat. Deshalb fragen wir, ob wir nicht im Garten essen könnten. Diese Idee findet das Servierpersonal eher seltsam, ist jedoch einverstanden. Am dritten Tag sind wir schon eine ganze Gruppe, die draussen isst.
Obwohl wir uns auf der ganzen Reise immer sehr sicher gefühlt haben, nie in keiner Weise bedrängt, betrogen, bestohlen oder bedroht wurden, lief es uns eines Nachts im Hotel kalt den Rücken runter. Wir hörten ein Rudel Wölfe so eindringlich heulen, dass wir das Gefühl hatten, die Wölfe seien direkt neben uns im Bett.
Der Bialowieza Nationalpark liegt an der Weissrussischen Grenze, auch an der heutigen Glaubensgrenze
Ab 1795 konnten die Einheimischen für den russisch-orthodoxen Zaren arbeiten, mussten jedoch gleichzeitig auch ihren Glauben wechseln. In aller Eile wurde in Bialystock (Hauptstadt der Gegend) für den dadurch entstandenen grossen Zuwachs an Gläubigen eine riesige Orthodoxe Kirche gebaut.
Heute zeugen in Bialystock einige Russisch Orthodoxe Kirchen von der russischen Herrschaft. Z.B. die klassizistische NikolausKirche aus dem Jahre 1846, deren Fresken an jene der Sophienkathedrale von Kiew angelehnt sind. In der Gegend von Bialystock leben heute ca. 200’000 orthodoxe Weissrussen.
Auch wenn dies nicht offiziell bestätigt wird, legen die Ausmasse der Sakralgebäude beider Glaubensrichtungen die Vermutung nahe, dass die beiden Nationen in einen religiösen Konkurrenzkampf verstrickt waren. Zuerst erblickt man in Bialystock die riesige neugotische Kathedrale Maria Himmelfahrt, an die eine kleine barocke Kirche buchstäblich angeklebt ist. Die Erklärung dafür: Da die zaristischen Behörden nur ungern die Erlaubnis zum Bau katholischer Kirchen erteilten, wurde hier ein Trick angewendet: Man stellte den Neubau nur als Anbau des kleinen Gotteshauses dar.
Ein weiteres Symbol des triumphierenden Katholizismus ist die St. Roch-Kirche, ein 80 Meter hoher Bau, dessen imposante Wirkung noch durch seine Lage auf einem Hügel verstärkt wird. Dieses Gotteshaus entwarf Alfred Sosnowski im Jahre 1927 in einem eigenwilligen Stil.
Der Gegenangriff – eine riesige orthodoxe Kirche wurde erst 1998 fertig gestellt. Zwölf Kreuze auf den Kuppeln umgeben wie die zwölf Apostel den zentralen Zwiebelturm, dessen Kreuz allein 1500 kg wiegt. Dafür hat die Katholische Kirche eine Försterschule eröffnet, in der junge Menschen den Grundstein für eine Anstellung im Primärwald erhalten. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es natürlich auch Synagogen in Bialystock. Denn nach dem Attentat auf Zar Alexander II. im Jahre 1881 und der darauf folgenden Hetzkampagne gegen die Juden erreichte eine jüdische Einwanderungswelle das Weichselland, wo das Leben sicherer war als in Russland. Von Russland herkommend haben sich viele Juden in Bialystock, Hainowka, Narew etc. angesiedelt, wo die Juden um 1940 um die 70% der Bevölkerung ausmachten. In Bialystock gibt es heute verschiedene Mahnmale an die Zeit der Judenverfolgung. Im geschichtlichen Hintergrund gehe ich näher auf dieses Thema ein.
Spannend finde ich die Situation an der Glaubensgrenze mit all diesen Kirchen beider Religionen, die auch heute noch eine starke Präsenz signalisieren. So waren wir in Hainowka, einem kleineren Ort von 22’000 Einwohnern. Erst 1973 wurde hier eine Russisch Orthodoxe Kirche geplant, die einen Grundriss von 25 auf 35 Meter haben sollte. Auf zwei Etagen gab es nach knapp 20 jähriger Bauzeit 7 Altäre und Platz für 3’000 Gläubige.
Jede Orthodoxe Kirche teilt sich in drei Bereiche auf: Den Eingang, das Schiff der Kirche sowie den Altarraum. Die Kirchen liegen alle in einer Ost-West-Richtung, wobei der Altar immer in der Ostseite liegt. Der Altarraum ist immer mit einer Wand mit drei Toren vom Kirchenschiff abgetrennt. Durch das grosse Mitteltor werden die Heiligen Gaben getragen.

Den Altarraum dürfen nur die Priester sowie Männer und Knaben, die bei der Liturgie dienen, betreten. Auf dem Altar steht ein Tabernakel, in dem die Heiligen Gaben für die Kranken aufbewahrt werden.

Wieder hat uns die Rundreise ab Warschau in unberührte Natur, unsäglich weite Landschaften und reizvolle Städtchen geführt.
Blandine, im Sommer 2010
Quellen:
Persönliche Führer
Unterlagen aus den Tourismusinformationszentren
Eigenes Erleben und eigene Beobachtungen
Weitere Informationen über Galizien findest Du im Archiv unter Polen – Geschichtlicher Hintergrund