Chelm / Lublin

 

Auch in Chelm zeigen sich die Spuren der multikulturellen Gesellschaft durch die vielen sehr mächtigen und prächtigen Kirchen. Auf einem relativ kleinen Gebiet treffen wir die Römisch Katholische Basilika, das frühere Griechisch Katholische Basiliankloster, das Gebäude der Orthodoxen Bruderschaft der Heiligen Jungfrau Maria, die frühere Orthodoxenkriche St. Nikolaus, die frühere Synagoge, die Kirche der Heiligen Apostel, das Reformierte Kloster mit der Kirche des Heiligen Andreas, das frühere Institut der Heiligen Maria, die Orthodoxe Kirche des Heiligen Johannes sowie die Piaristenkriche. Sogar ein ehemaliger Bischofspalast eines Unierten Bischofes ist in Chelm zu sehen.

Obwohl auch hier die Kirchen wunderschön sind, beschliessen wir, sie nicht mehr zu besuchen. Der Umstand, an dieser Glaubensgrenze all die Zeugnisse der verschiedenen Glaubensrichtungen beieinander zu sehen, genügt uns. Stattdessen lassen wir uns für eine Führung durch das Kreide-Bergwerk begeistern.

Unter der Stadt Chelm, die heute 68’000 Einwohner zählt, liegt eine Kreideschicht, die früher abgetragen wurde. Die Bewohner von Chelm bemerkten, dass sie die Kreide sehr gut verkaufen können, begannen unter ihren Häusern – lieber noch unter dem Haus des Nachbarn – zu graben, um möglichst viele Kreide verkaufen zu können. Nach einigen Jahren vielen die Häuser ein. Danach wurde das Ganze professionell aufgezogen, ein richtiges Kreidebergwerk entstand.

Mit Lublin besuchen wir die interessanteste Stadt auf dieser Rundreise. Mit ihren 350’000 Einwohnern auch die grösste. Lublin will im Jahre 2016 Kulturhauptstadt Europas werden. Prinzipiell fände ich dies eine sehr gute Idee. Lublin hat mindestens so viel zu bieten wie Genua, das auch schon Kulturhauptstadt war. Allerdings gäbe es für den Empfang von westlichen Touristen noch einige Hindernisse zu überwinden.

Erstens gibt es bei Lublin noch keinen Flughafen, man müsste nach Warschau fliegen und dort ein Auto mieten, weil auch der Bahnverkehr nicht optimal organisiert ist. Lublin richtet sich nach Russland und hat kaum Englisch sprechendes Personal. Als ich im offiziellen Tourismusbüro auf Polnisch frage, ob wohl jemand Englisch, Deutsch oder Französisch spreche, springt der junge Mann auf und davon um Hilfe zu holen, die jedoch nicht kommt. Man hat sich vielmehr davor gefürchtet, in einer Sprache ausser Russisch, Ukrainisch oder Polnisch sprechen zu müssen.

Wir übernachten in einem tollen Hotel, haben einen eleganten Flachbildschirm an der Wand, aber es wäre nicht möglich, etwas anzusehen, das weder in russischer, ukrainischer oder polnischer Sprache ist. Auch gibt es keine westliche Zeitung oder eine Zeitung in englischer Sprache. Es ist uns nicht möglich, irgendetwas auf Englisch zu bekommen. Ausser die Hotelordnung, die auf unserem Nachttisch liegt. Ich nehme sie als Souvenir mit.

Zudem war Lublin bis zur Wende noch russisch-kommunistisch. Dies ist immer noch zu spüren. Kundenfreundlichkeit wie wir dies im Western kennen, gibt es nicht. Wer hinter der Ladentheke steht, hat die Macht. Der Kunde ist der Bittsteller, kann froh sein, wenn er etwas kaufen kann. Ich habe seit meiner Russland-Reise nie mehr so viele Geschäfte mit so wenig angebotenen Waren gesehen wie in Lublin.

Auf keinen Fall möchte ich mich jedoch über Lublin beklagen. Es ist wirklich eine äusserst kulturelle Stadt. Wunderschön! Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erlebte Lublin zusammen mit der ganzen Adelsrepublik eine Zeit wirtschaftlicher und kultureller Hochblüte, kultivierte gleichzeitig ihre konfessionelle und politischen Freiheiten. Erst nach der Teilung, unter Russland verlor Lublin seinen Schwung, findet ihn jedoch heute wieder.

Der Reiz von Lublin ist vor allem sein Standort: Lublin ist etwas russisch, auch etwas polnisch. Davon profitiert die Stadt heute. Die Handelsreisenden der GUS-Staaten tätigen hier gerne ihre Geschäfte, weil Lublin noch etwas Heimat ist. Für die westlichen Geschäftsleute ist Lublin ebenfalls etwas Heimat, weil es mit Polen in der EU liegt.

Die Fussgängerzone in der mittelalterlichen Altstadt, das Schloss, das Rathaus, der Dom, das Opernhaus, die vielen Kunstgalerien, die guten Restaurants, die zwei Universitäten machen Lublin durchaus zu einer interessanten Stadt zwischen zwei Welten, zwischen Ost und West. Diese spezielle Ost-West-Atmosphäre empfinde ich als die Hauptattraktion, weil ich sie so noch nirgends erlebt habe.

Blandine, im Herbst 2009

Quellen:
Kurs über Galizien an der Volkshochschule in Zürich
Unterlagen der besuchten Städte
Eigenes Erleben sowie eigene Beobachtungen

Weitere Informationen über Galizien findest Du im Archiv unter Polen – Geschichtlicher Hintergrund.

Nachtrag: es gibt nun einen Flughafen in Lublin. Obwohl nun Lublin definitiv nicht Kulturhauptstadt Europas wird, lohnt es sich, diese Stadt anzusehen. Einzigartig ist die Atmosphäre zwischen Ost und West.

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